Nürnberger Nachrichten vom 24.04.2024 – VON HARALD BAUMER
Wahlrecht | Der Nürnberger vertritt die Interessen der Union beim Streit um die Wahlreform.
Berlin – Kurz nach 10 Uhr wurde Michael Frieser im Sitzungssaal des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts von der Vorsitzenden und Vizepräsidentin Doris König namentlich aufgerufen. Der Nürnberger CSU-Abgeordnete und Fraktionsjustiziar war nach Oppositionsführer Friedrich Merz einer der ersten Vertreter auf Klägerseite, die sich von ihrem Platz erheben und so kurz dem Gericht vorstellen durften.
Es könnte der Verfassungsgerichtsprozess des Jahres werden, der nun in seine entscheidende Phase getreten ist. Das höchste deutsche Gericht muss darüber entscheiden, ob die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition ganz oder teilweise grundgesetzwidrig war. Zwei Tage hat man sich für die Anhörung der Verfahrensbeteiligten genommen, im Sommer oder Frühherbst ergeht vermutlich das Urteil. Da wird es auch höchste Zeit werden, denn die Vorbereitungen der Parteien zur Bundestagswahl haben dann schon begonnen.
Kenner des Verfassungsgerichts wissen, dass bereits die scheinbar neutrale Anhörung durch das Gericht viele Rückschlüsse auf das spätere Urteil geben kann. So liefert die Art und Weise der Fragen gewisse Hinweise. Michael Frieser fand es zum Beispiel interessant, dass sich der Fragenkatalog nicht auf Teilaspekte beschränkte, sondern alle Punkte der Klage behandelte. Das sei in dieser Form sehr selten und könne auf eine Entscheidung hindeuten, die wirklich umfassend und grundlegend ist und sich nicht nur mit der Korrektur einzelner Bereiche zufriedengibt.
Der Nürnberger ist seit dem Jahr 2012 mit dem Thema Wahlrecht befasst und kennt sich in den Details so gut aus wie kaum ein anderer Parlamentarier. Bemerkenswert fand Frieser an der Befragung, wie sehr sich das Gericht auch für das Zustandekommen der Wahlrechtsreform interessierte. Es hatte von Seiten der Opposition den Vorwurf gegeben, dass die Ampel eine unwürdige Hauruck- Aktion veranstaltet habe.
Worum geht es? Die Ampel will die Zahl der Abgeordneten (derzeit über 700) auf 630 begrenzen. Die Reduzierung an sich stößt kaum auf Widerstand, denn im Grunde sind alle der Meinung, dass das Parlament nicht so groß sein sollte. Schon seit Jahren wird diese Forderung von den Parteien vertreten. Auch die Bürger stimmen dem in Umfragen stets zu. Heftigen Streit gibt es aber um die Methode, wie man das erreichen könnte. Da gehen die Vorstellungen denkbar weit auseinander.
Ansprechpartner für Probleme
Wegen des Wegfalls der Ausgleichs- und Überhangmandate würden künftig nicht mehr alle im Wahlkreis direkt gewählten Abgeordneten in den Bundestag einziehen. Es gäbe also den klassischen, mehrheitlich gewählten Wahlkreisabgeordneten nicht mehr überall. Gerade dieser gilt aber manchen als unmittelbarer Ansprechpartner der Bürger. Für kleinere Parteien könnte sich der Wegfall der sogenannten Grundmandatsklausel besonders fatal auswirken. Wenn eine Partei mindestens drei Direktmandate erobert hatte, dann durfte sie nach den bisherigen Regeln auch beim Unterschreiten der Fünf-Prozent Hürde in voller, ihrem Zweitstimmenergebnis entsprechenden Stärke in den Bundestag einziehen.
Das Horrorszenario der CSU und deren Wähler wäre folgendes: Sie bliebe 2025 im Bund knapp unter fünf Prozent und wäre dann komplett draußen aus dem Parlament, also auch mit ihren 47 möglichen gewählten Direktkandidat(inn)en aus den Wahlkreisen. Zwar ist das nicht sehr wahrscheinlich, denn 2021 erreichte die CSU 5,2 Prozent und seitdem hat die Ampel Konkurrenz stark an Zustimmung verloren. Doch möglich bliebe ein derartiges Scheitern trotzdem.
Die gegenwärtige Regierung aus SPD, Grünen und FDP hat einen anderen Grund zum Zittern. Sollte das Verfassungsgericht auch die geplante Wahlrechtsreform kippen (und das vielleicht auch noch mit deutlichen Worten tun), dann wäre das schon eine wiederholte Schlappe. Angesichts des vernichtenden Haushaltsurteils vom November 2023 und einiger anderer Entscheidungen müsste sich die Ampel kritische Fragen nach ihrem Verständnis des Grundgesetzes stellen lassen.
Auffallend war, dass alle prominenten Vertreter des Regierungslagers den Verhandlungstermin in Karlsruhe mieden. Während die Klägerseite bundesweit bekannte Promis wie Gregor Gysi und Friedrich Merz aufbot, war der SPD Fraktionsvize Dirk Wiese der führende Vertreter der Ampel im Sitzungssaal. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass man in Regierungskreisen die Erfolgsaussichten in dem Verfahren für gering hält und sich niemand von Rang für einen solchen Auftritt hergeben wollte.